30.12.2020 Der Tipp mit dem Turm

30.12.2020 Der Tipp mit dem Turm

Das einzige Geräusch, das in dem hellen, gut zwanzig Quadratmeter großen Zimmer zu hören ist, ist das beständige Zischen und die Pumpgeräusche des mobilen Sauerstoffgeräts. Matthew Daly, Schüler des Marie- Curie-Gymnasiums und Uwe Bauersachs, Bewohner des Pflege- und Altenheims Gerricusstift in Gerresheim sitzen sich gegenüber. Sie sind hochkonzentriert. Zwischen ihnen steht ein Schachspiel mit matten und durchsichtigen Glasfiguren. Uwe Bauersachs ist am Zug. Der 14-jährige Matthew durchbricht das Schweigen und rät: „Ich empfehle Ihnen, den Turm auf diese Position zu stellen.“ Dabei tippt er auf eine freie Stelle auf dem Glasfeld. Der 51-Jährige beherzigt den Rat und stellt seinen Turm auf das aufgezeigte Quadrat.

Matthew würde gerne noch länger als eine Stunde bleiben

Jeden Mittwoch kommt Matthew Daly ins Gerricusstift, um mit Uwe Bauersachs Schach zu spielen. Wegen der Corono-Schutzverordnung trägt er eine FFP2-Maske und wird vor dem Betreten des Pflege- und Altenheims per Schnelltest auf eine COVID-19-Erkrankung getestet. Diese Maßnahmen machen ihm nichts aus. Er bedauert nur, dass er aufgrund der Corona-Bestimmungen nach einer Stunde wieder gehen muss. „Ich würde gerne noch etwas länger bleiben“, sagt Matthew. Meistens schaffen der ehemalige LKW-Fahrer und der Schüler in diesen 60 Minuten zwei bis drei Partien Schach.

Matthew Daly und Uwe Bauersachs spielen jeden Mittwoch Schach miteinander.

Laut Matthew geht es ausgewogen zu: Mal gewinnt er, mal gewinnt Uwe Bauersachs. Hin und wieder gibt der Gerricusstift-Bewohner Tipps, hin und wieder der Gymnasiast. Aber eigentlich sprechen die beiden nicht viel miteinander. Nur am Anfang, bevor es losgeht, erzählt Matthew ein bisschen von der Schule, oft von seinen Lieblingsfächern Mathe und Englisch, und Uwe Bauersachs teilt Erinnerungen an seine eigene Schulzeit. Dann wird das Glas-Schachspiel, das Uwe Bauersachs von seinem Zimmernachbarn geschenkt bekommen hat, aus dem dunkelbraunen Holzschrank geholt und die beiden vertiefen sich in die Partie.

Uwe Bauersachs freut sich die ganze Woche auf das Schachspielen

„Ich freue mich schon die ganze Woche auf unseren gemeinsamen Schachnachmittag“, sagt Uwe Bauersachs, der seit dreieinhalb Jahren im Gerricusstift wohnt. Er leidet an der chronischen Lungenerkrankung COPD, einer typischen Raucherkrankheit, und ist auf ständige Sauerstoffzufuhr angewiesen. Das Schachspielen hat Uwe Bauersachs als Kind zusammen mit seinen beiden Brüdern und seiner Schwester von seinen Eltern gelernt. Die beste Strategie hat ihm allerdings seine Mutter beigebracht. „Damit gewann meine Mutter oft gegen meinen Vater“, so Bauersachs. Und diese Strategie hat er nun auch an Matthew weitergegeben. Der Schüler hat sie wiederum gegen seinen Vater und „Lehrmeister“ angewendet – und prompt die Partie für sich entschieden. „Obwohl mein Vater ein sehr guter Schachspieler ist,“ erzählt Matthew. Als er noch Schüler war, sei es seinem Vater sogar gelungen, den Schachlehrer seiner Schule zu schlagen.

Es war Matthews Idee, ein Sozialpraktikum im Pflege- und Altenheim Gerricusstift zu machen. Seine Mutter, Andrea Daly, ist Religionslehrerin am Gymnasium Gerresheim und besucht – wenn nicht gerade eine Pandemie herrscht – einmal im Monat mit Schülerinnen und Schülern das Gerricusstift. Sie spielen dann zusammen mit den Bewohnerinnen und Bewohnern Gesellschaftsspiele wie Mensch-ärgere-dich-nicht, unterhalten sich und lernen voneinander. Als Andrea Daly ihrem Sohn von einem ihrer Schüler erzählt, der an diesen Vormittagen stets mit einem Bewohner Schach spielt, entsteht bei Matthew der Wunsch, dies auch zu tun.

Den Schüler und den Gerricusstift-Bewohner verbindet die Freude am gemeinsamen Strategiespiel.

Seit Anfang Oktober ist Matthew nun Schülerpraktikant im Gerricusstift, und seitdem verbindet den 9.-Klässler und Uwe Bauersachs die Freude am Schachspiel. Matthew liebt allgemein Strategiespiele wie zum Beispiel „Risiko“ und Skat. Am Schach fasziniert Matthew vor allem, dass man „Vorausdenken“ und „die gegnerischen Züge vorwegnehmen“ muss. Dem Gerricusstift-Bewohner geht es ähnlich. Neben der „Ruhe, die man zum Nachdenken braucht“ schätzt er es vor allem, dass man ständig „umdisponieren und zwei Pläne gleichzeitig im Kopf“ haben müsse.

Inzwischen hat sich das Schachfeld sichtlich geleert. Uwe Bauersachs besitzt nur noch den König, während Matthew noch ein Dutzend Figuren auf der Glasplatte stehen hat. Nach wenigen Zügen ist der Gerricusstift-Bewohner schachmatt. Ob die Partie nun trotz oder wegen des Ratschlags mit dem Turm so ausgegangen ist, bleibt offen. Das Gewinnen steht für keinen von beiden im Vordergrund. Fest steht aber: Eine Revanche gibt es bereits in der kommenden Woche. Matthew wird auch in den Winterferien jeden Mittwoch zu Uwe Bauersachs zum Schachspielen kommen.

Text und Fotos: Angelika Fröhling